Die Rückkehr der Würde

Frank Noack über die Oscar-Nacht 2003

Der Oscar ist mehr als nur ein Preis. Er ist auch eine Sucht. Menschen, die schon lange aufgehört haben, ihn ernst zu nehmen, weil ihre Lieblingsfilme fast nie identisch mit den Lieblingsfilmen der Jury sind, bleiben eine ganze Nacht lang auf, um die Zeremonie zu verfolgen. Woher kommt diese irrationale Faszination? Frankreichs höchste Filmauszeichnung, der César, stößt auf kein vergleichbares Interesse, obwohl Frankreich im Durchschnitt bessere Filme vorweisen kann als die USA.
An der langen Geschichte kann es nicht liegen. Der Oscar ist zwar bereits 75 Jahre alt und wurde erstmals für Leistungen aus der Saison 1927/28 verliehen. Aber seit 1930 wird der National Board of Review Award verliehen und seit 1935 der New York Film Critics Award; die Filmfestspiele von Venedig gibt es seit 1932. Was hat der Oscar - mit bürgerlichem Namen Academy Award - , das die anderen Preise nicht haben? Es ist die ambivalente Wirkung, die von jeder Verleihung ausgeht. Beim Oscar paart sich Erhabenes mit Peinlichem, das Elitäre existiert neben dem Vulgären, die Jury greift nach den Sternen und schielt nach der Gosse. Für jeden Geschmack ist etwas dabei.
In den letzten Monaten ist darüber diskutiert worden, ob man die Zeremonie nicht wegen des Irak-Krieges verschieben sollte. Bis wann denn? Wer kann wissen, wie lange ein Krieg dauert? Außerdem sind während des Zweiten Weltkriegs kontinuierlich Oscars verliehen worden, und die Ausmaße des Zweiten Weltkriegs dürfte der Einsatz im Irak kaum erreichen. Immerhin hatte das für dieses Jahr verordnete Keuschheitsgebot (schlichte Kleidung, weniger Witze) eine erfreuliche Nebenwirkung. Es gab kaum Peinlichkeiten, durchweg geschmackvolle Roben und ebenso geschmackvolle Tanz- und Gesangseinlagen. Fast alle Stars trugen Schwarz, Jennifer Lopez, Kate Hudson und Diane Lane entschieden sich für Beige, Renee Zellweger trug dezentes Rot und Julianne Moore dezentes Grün. Deplaziert wirkte allein Cameron Diaz. Sie trug zwar ein hübsches schwarzes Kleid, aber mit ihrem ordinären Gesichtsausdruck hätte sie lieber zur Verleihung des Ballermann Film Critics Award gehen sollen. Der Moderator Steve Martin leistete sich ein paar Ausrutscher: Wer lacht schon über Bemerkungen wie "Legen Sie sich nicht mit der schwulen Mafia an, sonst liegt bald ein abgetrennter Pudelkopf in Ihrem Bett"? Auf einen sexistischen Witz von Martin hat die Regie dankenswerterweise mit einem Schnitt auf Salma Hayek reagiert, die demonstrativ nicht lachte.
Ansonsten gibt es nur Positives zu berichten. Die Reduzierung der Farbpalette bei den Kleidern führte keineswegs zu einer traurigen, langweiligen Veranstaltung. Ganz im Gegenteil, seit 1960 (als Simone Signoret und Shelley Winters ihre Oscars entgegennahmen) waren nicht so viele sinnliche, selbstbewusst mollige Frauen mit tiefem Dekolleté zu sehen, die dem Schlankheitswahn der Filmindustrie die Stirn boten. Allen voran die hochschwangere Catherine Zeta-Jones, ausgezeichnet als beste Nebendarstellerin für "Chicago", ihre ebenfalls für "Chicago" nominierte Kollegin Queen Latifah, die für "Chicago" ausgezeichnete Kostümdesig-nerin Colleen Atwood, die fürs Makeup von "Frida" ausgezeichnete Beatrice de Alba und die für "About Schmidt" als Nebendarstellerin nominierte Kathy Bates. Junge wilde "shooting stars" wie der Ire Colin Farrell und der Mexikaner Gael García Bernal konnten sich ebenso entfalten wie der zum Grandseigneur gereifte John Travolta.
Am interessantesten war an diesem Abend natürlich die Frage, wie sich die Künstler zum Krieg äußern würden. Der augenblickliche US-Präsident ist bei Stars und Regisseuren nicht allzu beliebt. Würden sie die Oscar-Verleihung zum Anlass nehmen, ihren Präsidenten verbal anzugreifen? Fehlanzeige. Allein Michael Moore, ausgezeichnet für seinen Dokumentarfilm gegen die Waffen-Lobby "Bowling für Colombine", attackierte den Regierenden hart und bekam Buhrufe, allerdings auch stehende Ovationen. Die meisten Teilnehmer übten Zurückhaltung und kritisierten die gegenwärtige Politik indirekt. Der Schauspieler Adrien Brody wählte einen Mittelweg: Er wünschte sich Frieden und grüßte zugleich Freunde, die als Soldaten in Kuwait stationiert sind. Gegen den Krieg, nicht gegen die Soldaten - diese Position suggerierte auch der als bester Nebendarsteller ausgezeichnete Chris Cooper. Altbekannte Bush-Gegner wie Dustin Hoffman und Susan Sarandon verzichteten ganz darauf, gegen den Präsidenten zu wettern. Sie setzten mit ihrer bloßen Anwesenheit ein Signal.
Keine Buhrufe verursachte der Auftritt von Pedro Almodóvar, der für sein Drehbuch zu "Hable con ella" ausgezeichnet wurde und auch als Regisseur nominiert war. Warum sein in Deutschland unter dem Titel "Sprich mit ihr" gefeiertes Krankenhaus-Melodram keine Nominierung als bester fremdsprachiger Film erhielt, wollte niemand so recht wissen. Dabei gibt es triftige Gründe. Almodóvar hat nicht nur den sexuellen Missbrauch einer Komapatientin romantisiert und der Vergewaltigung heilende Wirkung zugesprochen. Er ließ auch für eine irrelevante Nebenhandlung mehrere Stiere töten, obwohl man deren Ermordung beim heutigen Stand der Technik digital darstellen kann. In Spanien fanden sich genügend Demonstranten gegen Almodóvar, und da Spanien bestimmt, welcher Film für die Oscars kandidiert, hatte "Hable con ella" keine Chance. So konnte Caroline Link mit "Nirgendwo in Afrika" gewinnen. In seiner Dankesrede machte Almodóvar einiges wieder gut: Er hat zwar kein Herz für Frauen und Stiere, scheint aber doch gegen den Krieg zu sein.
Eine angemessen königlich gekleidete Meryl Streep überreichte schließlich den Ehren-Oscar an Peter O'Toole, der den Preis vor ein paar Wochen noch ablehnen wollte: Zu jung sei er mit seinen 70 Jahren, um schon für das Lebenswerk geehrt zu werden. Glücklicherweise hat er es sich anders überlegt. Von Maurice Jarres "Lawrence of Arabia"-Thema begleitet, schritt ein unverändert jugendlicher O'Toole auf die Bühne. Siebenmal nominiert zu werden und jedesmal zu verlieren, das hat außer ihm nur sein Freund Richard Burton geschafft. Filmausschnitte erinnerten an "Lawrence of Arabia", "Becket", "The Lion in Winter", "Goodbye, Mr. Chips", "The Ruling Class", "The Stunt Man" und "My Favorite Year" - jene Filme, die ihm seine Nominierungen eingebracht hatten, sowie an "The Night of the Generals" und "Caligula". O'Tooles Rede war kurz, und er versuchte nicht, einen großen Auftritt hinzulegen. Ein großer Auftritt war es dennoch. Weil bei Peter O'Toole die bloße Präsenz schon ausreicht, um das Publikum in Ehrfurcht zu versetzen.
Nicht nur im Zusammenhang mit O'Toole sind Filmausschnitte an diesem Abend massiv eingesetzt worden. Alle bisherigen Preisträger in den Kategorien Hauptdarsteller, Hauptdarstellerin, Nebendarsteller und Nebendarstellerin waren in einer rasanten Montage zu bewundern. Bei Filmausschnitten sollte es nicht bleiben. Erstmals in der Geschichte des Oscars wurde versucht, sämtliche noch lebenden Preisträger aus dem Bereich der darstellenden Kunst für ein Gruppenbild zu vereinen. Vorgestellt von der 86-jährigen Olivia de Havilland, saßen da plötzlich auf vier Reihen verteilt 59 Oscar-Gewinner aus 66 Jahren:
Luise Rainer, die als beste Hauptdarstellerin für "The Great Ziegfeld" (1936) und "The Good Earth" (1937) ausgezeichnet wurde, Mickey Rooney (Juvenile Award 1938), Teresa Wright ("Mrs. Miniver", 1942), Jennifer Jones ("The Song of Bernadette", 1943), Margaret O'Brien (Juvenile Award 1944), Claude Jarman Jr. (Juvenile Award 1946), Celeste Holm ("Gentlemen's Agreement", 1947), Karl Malden ("A Streetcar Named Desire", 1951), Eva-Marie Saint ("On the Waterfront", 1954), Ernest Borgnine ("Marty", 1955), Red Buttons ("Sayonara", 1957), Shirley Jones ("Elmer Gantry", 1960), Hayley Mills (Juvenile Award 1960), George Chakiris und Rita Moreno ("West Side Story", 1961), Maximilian Schell ("Judgment at Nuremberg", 1961), Patricia Neal ("Hud", 1963), Julie Andrews ("Mary Poppins", 1964), George Kennedy ("Cool Hand Luke", 1967), Cliff Robertson ("Charly", 1968), Barbra Streisand ("Funny Girl", 1968) sowie die in darauffolgenden Jahren ausgezeichneten Kollegen Kathy Bates, Halle Berry, Nicolas Cage, Michael Caine, Jennifer Connelly, Sean Connery, Geena Davis, Daniel Day-Lewis, Kirk Douglas (86 Jahre jung, seinen Schlaganfall erahnte man beim Sprechen, aber körperlich wirkte er topfit), sein Sohn Michael Douglas, Robert Duvall, Louise Fletcher, Brenda Fricker, Cuba Gooding Jr., Louis Gossett Jr., Joel Grey, Tom Hanks, Marcia Gay Harden, Dustin Hoffman, Anjelica Huston, Ben Kingsley, Martin Landau, Cloris Leachman, Marlee Matlin, Jack Nicholson, Tatum O'Neal, Jack Palance, Julia Roberts, Susan Sarandon, Mira Sorvino, Sissy Spacek, Mary Steenburgen, Meryl Streep, Hilary Swank, Jon Voight, Christopher Walken und Denzel Washington.
Aus gesundheitlichen Gründen fehlten Bob Hope, Komiker und häufiger Oscar-Conferencier, der am 29. Mai seinen 100. Geburtstag feiert, die 95-jährige Katharine Hepburn, die bereits 1933 ihren ersten Oscar gewann und wegen ihrer Parkinson-Krankheit nicht mehr an die Öffentlichkeit geht, und der an Alzheimer erkrankte "Ben Hur" Charlton Heston. Joan Fontaine fehlte - sollte sie noch immer mit ihrer Schwester Olivia de Havilland zerstritten sein? Weitere noch lebende Oscar-Gewinner, über deren Anwesenheit man sich gefreut hätte: Jane Wyman, Marlon Brando, Shelley Winters, Elizabeth Taylor und Peter Ustinov. Da ließe sich einiges nachholen. Aber für den Anfang war diese Aktion schon imposant. Ein Veteran ist sogar in diesem Jahr nominiert worden: Der 80-jährige Komponist Elmer Bernstein für das Melodram "Far from Heaven". Neben der Verbeugung vor dem Alter gab es die Verbeugung vor den Toten: Katy Jurado, Dudley Moore, Rod Steiger, Horst Buchholz, J. Lee Thompson, Leo McKern, die mit 105 Jahren verstorbene Cutterin Margaret Booth, Signe Hasso, Daniel Taradash, Rosemarie Clooney, Kim Hunter, Alberto Sordi, Conrad L. Hall (posthum für seine Kameraarbeit an "The Road to Perdition" ausgezeichnet), George Roy Hill, Richard Harris, James Coburn und Billy Wilder wurden geehrt.
Irgend etwas vergessen? Ach ja, die Preise. Sie waren mal wieder das Unwichtigste. Das technisch herausragende, dabei ziemlich oberflächliche Musical "Chicago" (in dem so wüst hin- und hergeschnitten wird, dass man gar nicht beurteilen kann, ob die Darsteller singen und tanzen können) hat mit sechs Oscars nicht ganz so kräftig abgesahnt, wie man es angesichts der 13 Nominierungen erwartet hatte. Martin Scorseses "Gangs of New York", zehnmal nominiert, ging komplett leer aus, solch ein Debakel hat auch niemand vorhergesehen. Nicole Kidman gewann für ihre Virginia Woolf in Stephen Daldrys "The Hours" den Oscar, den sie eher für Stanley Kubricks "Eyes Wide Shut" oder Alejandro Amenabars "The Others" verdient hätte. In letzter Zeit hat die Ex-Frau von Tom Cruise mit ihrer kalten Professionalität so manchen Bewunderer irritiert, wenn nicht sogar vergrault; dass sie in ihrer Dankesrede die Fassung verlor, hat ihr wieder Sympathiepunkte eingebracht. Caroline Link, deren "Nirgendwo in Afrika" als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet wurde, machte sich daheim in Deutschland Sorgen um ihre erkrankte Tochter. So etwas ist wichtiger als ein Oscar.
Ob verdient oder nicht verdient, die wenigsten Preise lösten starke emotionale Reaktionen aus. Weil alle Beteiligten wussten, daß außerhalb dieser Veranstaltung Wichtigeres geschah. Nur beim besten Hauptdarsteller gab es eine wunderbare Überraschung. Als Favoriten galten in dieser Kategorie Jack Nicholson ("About Schmidt") und Daniel Day-Lewis ("Gangs of New York"). Der "Pianist" Adrien Brody hatte bestenfalls Außenseiterchancen, auch wenn er schon den renommierten National Society of Film Critics Award, einen César und den eher obskuren Boston Film Critics Award gewonnen hatte. Dass er dann doch den Oscar gewann, spricht für die Bereitschaft der Jury, wenigstens ab und zu mal den Außenseiter zu belohnen. Für solche Momente lohnte es sich aufzubleiben.
Noch verblüffender war der Regiepreis: Roman Polanski konnte nicht zur Verleihung erscheinen, weil er bei Betreten von US-Boden sofort ins Gefängnis käme. Vor einem Vierteljahrhundert unterhielt er sexuelle Beziehungen mit einer nach amerikanischem Recht Minderjährigen, so etwas wiegt dort schwerer als Kriegsverbrechen. Aber den Oscar für "The Pianist" bekam er trotzdem, ein weiterer Affront gegen George Bush Jr. und das "saubere" Amerika. Martin Scorseses Begeisterung angesichts von Polanskis Sieg wirkte echt. Gegen Polanski zu verlieren ist eine Ehre, mag sich Scorsese gedacht haben.
Bleibt die Frage: Braucht ein Film, ein Regisseur, ein Star wirklich den Oscar? Oder ist es nicht eher so, dass der Oscar seine Preisträger braucht? Natürlich sind Künstler mitunter sehr labile Menschen, und ein Preis kann ihnen aus einer schweren seelischen Krise heraus helfen. Judy Garland hätte den Oscar für "A Star Is Born" (1954) dringend benötigt, verlor jedoch gegen Grace Kelly in "A Country Girl". Ein schwerer Schlag und langfristig ein Triumph für Garland, denn ihre Niederlage kostete Grace Kelly Sympathiepunkte. Erinnert sich noch jemand an "A Country Girl"? Ein Oscar kann auch einschüchtern, übersteigerte Erwartungen auslösen, deren Nicht-Erfüllung dann getadelt wird. Gewinner aus den letzten Jahren wie Mira Sorvino ("Mighty Aphrodite", 1995) und Cuba Gooding Jr. ("Jerry Maguire", 1996) werden seit Jahren gehänselt, weil ihre Folgeprojekte nicht oscarreif waren. Jawohl, ein Oscar kann auch schaden. Oder in Vergessenheit geraten. Adrien Brody und Roman Polanski haben ihre Auszeichnungen wohl verdient, und für einen Newcomer wie Brody war der Preis sicher eine Starthilfe. Aber in die Filmgeschichte geht man nicht wegen seiner Oscars ein, sondern wegen seiner Leistungen.

Die Auszeichnungen:
Bester Film: "Chicago". - Regie: Roman Polanski ("The Pianist"). - Darsteller: Adrien Brody ("The Pianist"). - Darstellerin: Nicole Kidman ("The Hours"). - Nebendarsteller: Chris Cooper ("Adaptation"). - Nebendarstelle-rin: Catherine Zeta-Jones ("Chicago"). - Adaptiertes Drehbuch: Ronald Harwood ("The Pianist"). - Original-Drehbuch: Pedro Almodóvar ("Hable con ella"). - Kamera: Conrad L. Hall ("The Road to Perdition"). - Musik: Elliot Goldenthal ("Frida"). - Song: "Lose Yourself" von Eminem, Jeff Bass und Luis Resto ("8 Mile"). - Aus-stattung: John Myhre ("Chicago"). - Kostüme: Colleen Atwood ("Chicago"). - Schnitt: Martin Walsh ("Chica-go"). - Ton: "Chicago". - Visuelle Effekte: "Lord of the Rings The Two Towers". - Ton-Schnitt: "Lord of the Rings The Two Towers". - Makeup: "Frida". - Auslandsfilm: "Nirgendwo in Afrika". - Dokumentarfilm: "Bow-ling for Columbine". - Dokumentar-Kurzfilm: "Twin Towers". - Animationsfilm: "Sprited Away". - Ehren-Os-car: Peter O'Toole.