Er liebte alle Menschen – fast immer...

Mythos Brel:
Zum 80. Geburtstag des unvergessenen Chansonniers und Gelegenheitsschauspielers

Von Ann-Kristin Aschbrenner



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Am 8. April 2009 wäre Jacques Brel 80 Jahre alt geworden. Er starb vor nunmehr knapp über dreißig Jahren, doch ist er nach wie vor unvergessen und erreicht immer noch alte und junge Fans weit über den französischsprachigen Kulturraum hinaus. Der in Schaerbeek bei Brüssel als Jacques Romain Georges Brel geborene Sänger ist vor allem in Erinnerung für die Leidenschaft und Authentizität, mit denen er seine selbst komponierten Chansons lebendig werden ließ– vor allem bei seinen legendären Auftritten vor begeistertem Publikum, Darbietungen, bei denen er sich stets vollkommen verausgabte. Dass Brel sich 1966 auf dem Höhepunkt seiner Popularität fast völlig von der Bühne zurückzog, hat seinem Ruhm keineswegs geschadet, sondern seinen Mythos als „Grand Jacques“ vielleicht sogar noch zusätzlich befestigt. Dem jungen Brel war der Erfolg als Chansonnier allerdings keineswegs in die Wiege gelegt worden: Zwar war er fest entschlossen, dem bürgerlichen Leben, welches für ihn als Teilhaber einer Kartonagefabrik, die sich im Besitz seiner Familie befand, vorgesehen war, zu entrinnen – so ließ er 1953 seine Frau und seine beiden jungen Töchter in Brüssel zurück, um in Paris an einer Karriere als professioneller Musiker zu arbeiten. Doch brauchte er neben seinem lange unentdeckten Talent vor allem großes Durchhaltevermögen, um diesen Traum verwirklichen zu können: Denn Brels harte Anfangsjahre im der französischen Hauptstadt waren geprägt von etlichen Rückschlägen; als er schließlich eine LP eingespielt hatte („Jacques Brel et ses Chansons“, 1954), waren die Pressekritiken, die er dafür bekam, überwiegend vernichtend: Das französische Publikum sah in dem jungen Mann mit dem starken belgischen Akzent damals oft noch einen Provinzler, den man nicht ernst nahm, und ein Journalist erinnerte ihn daran, dass von Paris durchaus Züge nach Brüssel zu bekommen seien. Gemeinsam mit Charles Aznavour musste sich Brel für einige Zeit sein Geld mit Geschirrspülen in einem Kabarett verdienen, und seine Frau bat er in Briefen regelmäßig, ihm doch bitte Lebensmittelpakete zuzusenden, die unter anderem einen – gefüllten! – Salzstreuer enthalten sollten… Und doch schaffte Brel nach einigen Jahren den Durchbruch; und zwar nicht nur als Sänger und Live-Künstler wurde er berühmt, sondern er versuchte sich im Laufe seines intensiven, aber kurzen 49jährigen Lebens auch mit achtbarem Erfolg unter anderem als Musicalkomponist und –sänger, als Filmschauspieler (unvergessen ist das von ernsten Untertönen begleitete komödiantische Feuerwerk, das er sich mit Lino Ventura 1973 in „Die Filzlaus“ lieferte) und zweimal auch als Regisseur. Privat galt seine Leidenschaft dem Fliegen – er besaß mehrere Pilotenlizenzen – und dem Segeln; immer wollte der Lebenskünstler in Bewegung sein, Stillstand erschien ihm geradezu als „Sünde“, wie er immer wieder betonte. Doch während die meisten seiner nichtmusikalischen künstlerischen Projekte nur noch Kennern vertraut sind, beeindrucken seine Lieder immer noch ein breites Publikum. Heute gelten seine Kompositionen vielfach als überwiegend düster und pessimistisch. Letztlich muss man sicher festhalten, dass sich sein Werk bei näherer Betrachtung nicht nur als vergleichsweise umfangreich, sondern auch als in sich so vielfältig erweist, dass einfache Festlegungen auf bestimmte „Schubladen“ von vornherein gar nicht möglich sind; und doch wirken in der Tat etliche seiner oft gecoverten und übersetzten Texte und Melodien entschieden melancholisch. Und so ausgelassen andere Brelsche Chansons anmuten mögen - sogar viele der auf den ersten Blick leicht eingängigen, fröhlichen oder offen humorvollen Stücke wie „Madeleine“, „Le Pendu“ oder „Les Bonbons“ sind oft von unterschwelliger Tragik. Freilich gilt so durchaus auch umgekehrt, dass Brel in etlichen seiner Stücke auch deshalb unverhohlen gefühlsbetont sein konnte, ohne kitschig zu wirken, da ironische Brechungen in ihnen die Regel sind. Die Mittel zwischen Emotionalität und Satire, mit denen er seine Hörer erreichen wollte, sind demnach vielfältig: Und längst erschöpft sich sein Oeuvre nicht in simplen Liebesbekundungen, denn als engagierter, oder, wie er einmal sagte, angesichts bestimmter Missstände zeit seines Lebens auch „wütender“ Künstler übte er immer wieder auch deutliche Gesellschaftskritik. Dass er dabei mitunter bestimmte Gruppen – die „Bourgeoisie“ oder die flämischen Nationalisten seiner Heimat etwa – hart kollektiv attackierte, sich aber durchaus auch nicht mit Seitenhieben auf einige seiner Kollegen wie etwa Gilbert Bécaud (in „Orly“) oder Jean Ferrat (in „La Ville S’ Endormait“) zurückhielt, wenn er das Gefühl hatte, dass diese in ihren Chansons eine zu simple oder optimistische Sichtweise einnahmen, mag eine nahe liegende Folge dieser Haltung sein. Ähnlich mag sich der Umstand erklären, dass Hundefreund Brel („Mädchen gehen, Hunde bleiben“) mitunter auch als regelrechter „Frauenfeind“ missverstanden worden ist, wofür jedoch nach seinen zahlreichen Beziehungen offensichtlich die zunehmende Desillusionierung des anfangs sehr idealistischen Sängers über die begrenzten Möglichkeiten selbst einer noch so viel versprechenden Liebe verantwortlich war. Doch trotz der somit mitunter zynischen Äußerungen, die vor allem aus den letzten Lebensjahren von Brel überliefert sind, gilt wohl für den Chansonnier, was Georges Brassens mit fester Überzeugung über seinen Kollegen äußerte: „Er liebte alle Menschen“ – was er nicht zuletzt zeigte, indem er sie auf seine Art wachrütteln und sensibilisieren wollte. Doch selbst, wenn dieses Anliegen Brels längst nicht immer verstanden worden ist und er sich damit nicht nur Freunde machte: Auch seine Kritiker erkennen zumeist durchaus an, dass die Chansons dieses Sängers sich durch einen hohen dichterischen Anspruch auszeichnen. Obwohl er die möglichen Bedeutungen seiner Texte weniger stark verschlüsselt als etwa Bob Dylan oder Leonard Cohen und obwohl er sich selber einmal allenfalls als „Badezimmer-Poet“ bezeichnete, dessen Lieder man unter der Dusche pfeife, gewinnen seine Arbeiten ihre unbestrittene poetische Qualität nicht zuletzt aus der Spannung zwischen der mitunter deftigen Umgangssprachlichkeit der Formulierungen und der Komplexität der getroffenen Aussagen, aus der meisterhaften Verwendung bestimmter Sprachbilder und aus der Lebhaftigkeit des Ausdrucks, die aus bestimmten Liedern zugleich regelrechte Tongemälde mit überaus anschaulichen, geradezu impressionistischen Momentaufnahmen machen. Was der französische Philosoph und Filmtheoretiker Gilles Deleuze als typisches Evolutionsphänomen des Kinos beschreibt, findet sich interessanterweise als Binnenentwicklung in ähnlicher Form durchaus auch im akustischen Werk Brels – nämlich der Übergang von überwiegend stringenten narrativen Strukturen, die eine Handlung betonen oder vorantreiben, im Frühwerk - „Madeleine“ ist dafür ebenso beispielhaft wie etwa „Les Bonbons“ oder „La Fanette“ - zu einer Konzentration auf die reine Zeit, die geradezu stillzustehen scheint, in einigen späten Liedern Brels: In „Orly“ gibt es eine solche Sequenz, vor allem aber in „La Ville S’Endormait“ und „Les Marquises“, welches sich einer folgerichtig nur noch fragmentarischen Syntax bedient. Für Brel selbst stand die Zeit freilich keineswegs still: Er, der seinen letzten Live-Auftritt bereits am 17. Mai 1969 als Don Quichote mit dem von ihm ins Französische übertragenen Musical „Der Mann von La Mancha“ hatte, der also nie „ein alter Sänger“ werden wollte und der diese für ihn erschreckende Vision im sarkastischen „Jacky“ entwickelte, der oft den Tod besungen hatte und einmal sagte, nicht jeder könne das Glück haben, mit 33 zu sterben, erkrankte an Lungenkrebs – wohl nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass er zu Tourneezeiten bis zu 80 Zigaretten pro Tag geraucht hatte. Doch obwohl ihm 1974 ein Lungenflügel entfernt wurde, spielte er noch einmal eine letzte überaus erfolgreiche Platte ein, bevor er am 9. Oktober 1978 im französischen Bobigny starb. Heute sind es übrigens nicht nur Brels zahlreiche treue Hörer, die sein Andenken lebendig erhalten: Neben der von seiner Tochter France gegründeten Fondation Brel, einer Stiftung mit Sitz in Belgien und Frankreich, die sich seinem Andenken widmet, gibt es unter anderem längst auch mehrere wissenschaftliche Arbeiten über den Künstler und seine Rezeption. Nicht nur sie – auch etwa eine Aufsehen erregende Auktion von Brel-Memorabilia durch Sotheby’s im Oktober 2008 bezeugen eindrucksvoll das nach wie vor große Interesse an einem der größten Chansonniers aller Zeiten.


Brel-Kennerin Ann-Kristin Aschbrenner ist nicht nur Autorin von Spirit – Ein Lächeln im Sturm www.spirit-fanzine.de, sondern seit 2007 auch im Lektorat tätig.