Größere Ansicht anzeigen
Spirit-EIN-LÄCHELN-IM-STURM-Herausgeber Marc Hairapetian und Weltstar Charles Aznavour (Royal Tulip Grand Hotel 8. Juli 2013, Foto: Nune für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de

"Aber schön wäre es doch...!"

Interview mit dem "Entertainer des Jahrhunderts" Charles Aznavour“

Von Marc Hairapetian

Drucken

Eriwan, 7. und 8. Juli 2013: Charles Aznavour ist das beste Beispiel dafür, dass gewisse Dinge nur relativ sind. Trotz der geringen Körpergröße von 161 Zentimeter und dem fortgeschrittenen Alter von 89 Jahren bewegt sich der tadellos, aber nicht nicht übertrieben elegant gekleidete "Entertainer des Jahrhunderts" (CNN/Time Online) durch die Hallen des nach ihm benannten Museums in der armenischen Hauptstadt Eiwan. Einzig er scheint bei hochsommerlichen Temperaturen nicht zu schwitzen. Dennoch ist er sichtlich gerührt, als Duduk-Virtuose Gevorg Dabaghyan, der 2002 auf diesem sehr speziellen Holzblasinstrument den Soundtrack zum Film "Ararat" eingespielt hatte, ihm im Abstand von nur einem Meter alte armenische Melodien vorspielt. Aznavour hatte in Atom Egoyans Film den Regisseur Edward Saroyan gespielt, der einen Film über den Völkermord an den Armeniern dreht. 2013 stehen Egoyan und seine von der Musik zu Tränen ergriffene Frau, die Schauspielerin Arsinée Khanjian wieder neben dem wohl bekanntesten Armenier aller Zeiten, der von allen Seiten mit Glückwünschen, Geschenken und Autogrammwünschen bestürmt wird. Nach dem Empfang für einige Hundert Gäste des 10. Internationalen Filmfestivals "Golden Apricot", dessen diesjähriges "Gesicht" der am 22. Mai 1924 als Sahnowr Valinak Aznavowryan geborene Sänger und Schauspieler ist, bittet die lebende Legende zu einem exklusiven Interview in einem separaten Raum. Dieser ist mit Fotografien und Plakaten seiner mittlerweile rund 70jährigen Laufbahn geschmückt. Kühle Erfrischungen gießt er seinem Gesprächspartner selbst ein. Falls der leicht schwerhörige Künstler einen Halbsatz mal nicht versteht, fragt er sofort nach. Vom Französischen gleitet er mühelos ins Englische hinüber. Ein Gespräch über Vorbilder, die eigene Karriere, den Völkermord an den Armeniern und Filme, die anscheinend nicht das Licht der Leinwand erblicken dürfen.

Größere Ansicht anzeigen Gevorg Dabaghyan rührt mit seinem Duduk-Spiel Regisseur Atom Egoyan, Schauspielerin Arsinée Khanjian und Sänger/Schauspieler Charles Aznavour (Charles Aznavour House Museum Yerevan, 8. Juli 2013, Foto: Marc Hairapetian für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de). Aznavour sagte: "Die Seele des armenischen Volkes liegt in dieser Musik!"

Marc Hairapetian: Ich habe diese Frage schon mal ihrem Schauspielerkollegen Terence Stamp gestellt. Ist der berühmteste Ihrer Filme derjenige gewesen, indem Sie nicht mitgespielt haben?

Charles Aznavour: Jetzt bin ich aber gespannt. Welchen Film meinen Sie denn?

Marc Hairapetian: "Fahrenheit 451", Francois Truffauts Adaption von Ray Bradburys Science-fiction-Roman. Aus Truffauts Briefen und Tagebüchern geht hervor, dass er zuerst Sie oder Terence Stamp für die Rolle des erst Bücher verbrennenden, dann Bücher bewahrenden Feuerwehrmannes Montag vorgesehen hat.

Aznavour: Ich war mit Francois seit 1960 dank "Schießen Sie auf den Pianisten" eng befreundet. Zwar hatte ich schon seit Ende der 1930er Jahre gelegentlich in größeren und kleineren Rollen in Filmen mitgewirkt, doch durch ihn bekam ich erst den Ritterschlag zum Schauspieler, den man ernst nahm. Vorher wurde ich immer als der Sänger, der sich auch im Kino ausprobiert, wahrgenommen. Dabei wollte ich zuerst gar nicht Sänger, sondern unbedingt Schauspieler werden! Nach meiner Rolle als ehemaliger Konzertpianist Eduard Saroyan, der heruntergekommen als Klavierspieler Charlie Kohler in Bars Pech in der Liebe und im Spiel hat, wollte Francois unbedingt noch einmal mit mir zusammen arbeiten. Er war vernarrt in meinen traurigen armenischen Augen. "Du wirkst immer melancholisch, auch, wenn du lachst", sagte er mir immer wieder: "Das prädestiniert Dich für eine Art Antihelden, den die Leute viel lieber im Kino sehen wollen, als all diese coolen John-Wayne-Typen." Dabei liebte er Western sehr. Wegen "Fahrenheit 451" hat er, obwohl ich seine erste Wahl noch vor Peter O'Toole und Montgomery Clift war, aber nie wirklich detailliert mit mir gesprochen. Ich wäre für die Rolle des Staatsrebellen in dieser Dystopie auch fehlbesetzt gewesen.

Marc Hairapetian: Wieso?

Größere Ansicht anzeigen Charles Aznavour in seinem eigenem Museum in Eriwan (8. Juli 2013, Foto: Marc Hairapetian für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de)


Aznavour: Weil Oskar Werner einfach perfekt als Montag war! Besser hätte auch Terence Stamp nicht sein können, der mir später erzählte, er hätte eine zu hohe Gagenforderung gestellt und außerdem wäre er mit der Doppelrolle von Julie Christie nicht klar gekommen. Mir fehlten einfach Oskars intellektuelle Fähigkeiten für diesen Part. Ein großer Schauspieler ist wie Alec Baldwin einmal sagte, vieles in einem Moment. So wie Oskar. Er war sehr komplex. Sensibel und introvertiert, aber auch zerrissen und voll ungekünsteltem Pathos. In "Jules und Jim" ist er als duldsamer Geliebter von Jeanne Moreau, der ihre Liaison mit seinem besten Freund Henri Serre zulässt, fast eine Jesus-Figur in ihrer Reinheit. Später in Stanley Kramers "Das Narrenschiff" hat er in den völlig unsentimentalen, aber gerade deswegen zu Herzen gehenden Liebesszenen mit Simone Signoret, einen neuen Typus von Hauptdarsteller kreiert. Keinen harten, beherrschenden Helden, sondern einen empfindsamen Mann. Nicht umsonst erhielt er Oscar- und Golden-Globe-Nominierungen sowie den französischen Filmpreis. In "Fahrenheit 451" hätte ich vielleicht noch den ersten Teil spielen können: Einen mit ernstem Buster-Keaton-Gesicht dreinblickenden Diener des Staates, der innerlich unglücklich mit seiner Aufgabe ist. Aber was Oskar im zweiten Teil gezeigt hat, ist einzigartig: Wenn er anfängt, die Bücher, die er eigentlich verbrennen soll, zu lesen, geschieht eine Wandlung mit ihm. Wie eine Blume, die die ersten Sonnenstrahlen empfängt, blüht er auf. Jetzt wird er erst wirklich zum Menschen! So etwas hätte ich damals noch nicht spielen können! Allein wie er aus Charles Dickens "David Copperfield" liest oder später aus den "Unheimlichen Geschichten" von Edgar AIlan Poe vorträgt, ist unübertroffen. Ich kam von der Nouvelle Vague, aber nicht vom Wiener Burgtheater.

Marc Hairapetian: Sind Sie Oskar Werner eigentlich persönlich begegnet?

Größere Ansicht anzeigen Charles Aznavour konzentriert (Eriwan, 8. Juli 2013, Foto: Marc Hairapetian für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de)


Aznavour: Ja, häufiger. Der Kontakt kam über Francois zustande. Die beiden waren ja bis zu "Fahrenheit 451" Freunde wie Brüder. Oskar hatte eine schöne Wohnung in Paris. Nachdem er seinen Jules in "Jules und Jim" noch phonetisch gelernt hatte, sprach er später ein hervorragendes Französisch. Ich habe ihn sehr bewundert, doch er war ohne Arroganz, interessierte sich sehr für meine Musik und meine armenische Abstammung. In den sogenannten "Swinging Sixties" haben wir es ab und zu zusammen krachen lassen. Er ist viel zu früh gestorben, nur zwei Tage nach Francois, mit dem er sich noch in den 1970er Jahren in Paris ausgesöhnt hatte. Seinen Weltschmerz und die Erkenntnis, dass man Goethes Triade vom Wahren, Schönen und Guten in diesem verrückten, modernen Zeitalter nicht immer gerecht werden kann, hat er versucht, im Alkohol zu ertränken. Sehr schade. Er hätte noch viel mehr erreichen können.

Marc Hairapetian: Sie sprechen voller Hochachtung über ihn: Braucht man als weltbekannter Künstler eigentlich auch noch eigene Vorbilder?

Aznavour: Zuerst einmal wird man ja nicht als weltberühmter Künstler geboren, sondern muss sich das hart erarbeiten. Zumindest war das in der Zeit, wo ich anfing, noch so. Ich habe immer Vorbilder gehabt - Fixsterne, an die ich mich halten konnte. Im Film war es Charlie Chaplin, beim Chanson Charles Trenet, an dessen Liedern nach seinem Tod nun mein Musikverlag die Rechte besitzt. Natürlich muss man irgendwann seinen eigenen Weg gehen. Doch es bringt Dir nichts, wenn Du Dich ab einem gewissen Bekanntheitsgrad im Elfenbeinturm zurückziehst. Man braucht Vorbilder, aber am dringendsten braucht manFreunde.

Marc Hairapetian: Wer sind ihre wahren Freunde?

Größere Ansicht anzeigen Shake Hands mit Gevorg Dabaghyan (8. Juli 2013, Foto: Marc Hairapetian für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de)


Aznavour: Zuerst meine schwedische Frau Ulla, mit der ich nach zwei zuvor gescheiterten Ehen, nun schon mehr als ein halbes Leben zusammen bin. An ihr liebe ich, dass sie so vollkommen unprätentiös ist. Sie braucht keinen Glamour und keine Parties - und holt mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, falls ich zu unangemessenen künstlerischen Höhenflügen ansetze. Sie erdet mich. Es ist ein Glücksfall, dass hier Freundschaft und Liebe eine Allianz eingehen. Sie sind doch halb armenischer, halb deutscher Abstammung? Wissen Sie, dass ich auch einen wahren Freund aus Deutschland habe? Wollen Sie raten, wer es ist?

Marc Hairapetian: Vielleicht Hardy Krüger?

Aznavour: Bingo! Seit "Taxi nach Tobruk", den wir 1960 zusammen mit Lino Ventura machten, sind wir Freunde, telefonieren und besuchen uns so häufig wie möglich - trotz unseres fortgeschrittenen Alters. Auf Hardy kann man sich bedingungslos verlassen. Er ist ein im positiven Sinne Neugieriger, ein wirklicher Globetrotter, der Land und Leute kennen lernen möchte.

Marc Hairapetian: Gab es nicht zu Beginn Ressentiments zwischen ihnen wegen des Zweiten Weltkriegs?

Größere Ansicht anzeigen Aznavour gelöst mit den Schauspierkollegen Arsinee khanjian und Serge Avedekian (Royal Tulip Grand Hotel, 7. Juli 2013, Foto: Marc Hairapetian für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de)


Aznavour: Nie. Hardy hatte mir erzählt, dass er als 13-Jähriger auf der Adolf-Hitler-Schule der Ordensburg Sonthofen ausgebildet wurde. Später lernte er den Schauspieler Hans Söhnker, der vielen Juden zur Flucht verholfen hatte, kennen. Und so wandelte sich Hardy zum Regimegegner, fast so wie Montag in "Fahrenheit 451". Wer macht in seiner Jugend keine Fehler?

Marc Hairapetian: Was waren Ihre Fehler?

Aznavour: Als Kind armenischer Eltern, die in Frankreich ein neues zu Hause gefunden hatten, war ich in meiner Jugend sehr links eingestellt. Ja, eigentlich konnte man mich als Kommunist bezeichnen, der verächtlich, vielleicht auch neidisch auf den Kapitalismus blickte. Später habe ich dann, als ich als Sänger und Schauspieler zu Erfolg kam, einen sehr luxuriösen Lebensstil geführt, musste unbedingt einen Rolls Royce fahren. Nun habe ich ein Energie sparendes Auto, dessen Marke ich noch nicht mal nennen möchte. Ich bin sparsamer geworden, aber nicht nur meinetwegen, denn ich kann kein Geld mit ins Grab nehmen, sondern für meine Familie, meine Kinder und Enkelkinder und deren Nachkommen. Eine Erkenntnis ist mir wichtig: Die ganzen "-ismen" sind mir zuwider: Faschismus, Kommunismus, Islamismus, Kapitalismus. Das sind doch alles Scheinideologien, mit denen an sich friedliche Menschen gegeneinander aufgehetzt werden sollen.

Marc Hairapetian: Im Film haben Sie nicht nur häufiger Armenier gespielt wie in Francois Truffauts "Schießen Sie auf den Pianisten" oder Atom Egoyans "Ararat", sondern auch Juden wie den Spielwarenhändler Sigismund Markus in Volker Schlöndorffs "Die Blechtrommel". Sehen Sie Parallelen zwischen Armeniern und Juden?

Größere Ansicht anzeigen Charles Aznavour am Aznavour Square in Eriwan (7. Juli 2013, Foto: Marc Hairapetian für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de)


Aznavour: Ich hoffe, Sie wollen mich nicht auf die Opferrolle festlegen. Natürlich verbindet uns der jeweilige Völkermord miteinander. Doch lange Zeit hatten wir Armenier auch die Staatenlosigkeit mit den Palästinensern gemein. Armenier können sich sowohl in die Juden als auch in die Palästinenser hineinversetzen - und das ist schon mal nicht schlecht, da alle Völker und auch Religionen aufeinander zugehen sollten. Sehr wahrscheinlich haben wir nur ein Leben - und das sollten wir uns so angenehm wie möglich gestalten. Kriege unter Ländern oder Volks- und Glaubensgemeinschaften sind häufig nur Vorwände für wirtschaftliche Interessen weniger mächtiger Leute.

Marc Hairapetian: Im Dezember 2008 wurde Ihnen - der offiziell immer als Franzose galt - auch die armenische Staatsbürgerschaft verliehen. Sie sind bei der UNICEF Vertreter Armeniens und nun wurde Ihnen beim Yerevan Internationalen Film Festival "Golden Apricot" ein eigener Stern auf dem nach Ihnen benannten "Charles Aznavour Square" verliehen...

Aznavour: ... und dieses Gespräch findet in dem ebenfalls nach mir benannten Kulturzentrum und Museum auf einer Anhöhe von Eiwan statt. (lacht) Worauf wollen Sie hinaus?

Größere Ansicht anzeigen Massenandrang wie in alten Zeiten: Aznavour bekommt seinen eigenen Stern am Aznavour Square (Eriwan, 7. Juli 2013, Foto: Marc Hairapetian für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de)


Marc Hairapetian: Fühlen Sie sich als Franzose oder als Armenier oder gar als Kosmopolit? In Armeniern werden Sie verehrt wie ein Heiliger. Drückt Sie diese Last nicht manchmal?

Aznavour: Letzteres ist eine wirklich gute Frage! Doch zunächst zur ersten: Wäre ich kokett, würde ich jetzt sagen: alles drei zusammen! Lange Zeit habe ich mich als Franzose gefühlt. Es ist die Sprache, in der ich mich am besten ausdrücken kann, es ist die Sprache, in der ich mit meinem Gesang Karriere machen durfte. Doch vielleicht hat es mit dem Alter zu tun, dass ich mich mehr und mehr als Armenier fühle. Meine Mutter galt, als sie nach Frankreich kam offiziell als Türkin, mein Vater als Georgier, doch für beide gab es nie einen Zweifel, dass sie sich als Armenier fühlten. Als 1988 das große Erdbeben in Armenien war, wusste ich, dass ich helfen musste. Das hat man mir im positiven Sinn nicht vergessen. Nun werden mir viele Ehrungen zuteil, so dass ich mich manchmal frage: Ist das nicht zuviel des Guten für einen alten Mann wie mich? Andererseits ist es schön, dass sich auch die junge Generation mit meinem Lebenswerk auseinander setzt. Also: Manchmal ist es alles ein bisschen viel, doch vom Applaus lebt jeder Künstler. Wer das verneint, lügt. Und hat man hier in dem nach mir benannten Haus nicht einen wunderschönen Ausblick auf Eriwan, einer Stadt, die zwischen Okzident und Orient zu Hause ist?

Marc Hairapetian: In der Tat. Sie haben sich immer wieder für die Anerkennung des türkischen Völkermords an Armeniern eingesetzt. Glauben Sie, dass eine türkisch Regierung eines Tages diese an sich nicht widerlegbare historische Tatsache eingestehen wird?

Größere Ansicht anzeigen Charles Aznavour in "Tirez sur le pianiste" (1960)


Aznavour: Glauben Sie, trotz meiner Lebenslust bin ich es ein wenig müde, über Politik zu reden. Man sollte niemals nie sagen. Viele in der Diaspora befindlichen Armenier konnten sich auch nicht vorstellen, dass es eines Tages eine unabhängige armenische Republik geben wird, wie diejenige, die jetzt seit 1991 Bestand hat. Auch in Armenien haben wir manche Probleme mit der Politik und es gibt eine Diskrepanz zwischen reich und arm. Etwas, das mich wirklich stolz machte, ist dass dieses 3000 Jahre alte Kulturvolk, als es Probleme mit der Elektrizität gab, 24 Stunden lang die Oper mit Notstromaggregaten beheizte, während es im Parlament kalt blieb Ich kann nur wiederholen, was ich schon vor geraumer Zeit gesagt habe - mag es auch ketzerisch klingen: Wenn sich die Türkei an dem Wort Völkermord stört, können Sie gerne ein anderes finden, wichtig ist nur, dass sie die Verbrechen von einst eingestehen - und dies in erster Linie nicht für die Armenier, sondern für sich. Ich habe nie das türkische Volk kritisiert, indem es genauso viele gute wie schlechte Menschen gibt wie in Armenien oder anderswo, sondern nur stets die jeweilige Regierung.

Marc Hairapetian: In den USA wurden Sie bereits 1998 von CNN und Time Online mit besonderen Hinweis auf ihre gesanglichen Qualitäten als "Entertainer des Jahrhunderts" ausgezeichnet, noch vor Elvis Presley und Bob Dylan. Was macht für Sie einen guten Sänger aus?

Größere Ansicht anzeigen Charles Aznavour mit Michele Mercier in "Tirez sur le pianiste" (1960)


Aznavour: Ich weiß gar nicht, ob ich im klassischen Sinne ein "guter Sänger" bin. Wichtiger als die Schönheit der Stimme an sich, ist ihr Ausdruck und wie man ein Lied interpretiert, es mit Leben füllt. Ich habe immer versucht, persönliche, intime Geschichten mit meinen Liedern zu erzählen, egal ob sie von mir geschrieben wurden oder beispielsweise von meinem bereits 1993 verstorbenen Schwager Georges Garvarentz. Das kannte man in den USA so nicht - und vielleicht wählte man mich deshalb seinerzeit auf Platz Eins, wo ich eigentlich Frank Sinatra an der Spitzenposition erwartet hatte.

Marc Hairapetian: Sie haben über 700 Lieder komponiert, noch mehr gesungen, darunter einige auch in deutscher Sprache. Welches ist Ihr Favorit in dieser für Sie doch ungewohnten Sprache?

Aznavour: "Tanze Wange an Wange mit mir" - die deutsche Version von "Les plaisiers demodes", auch bekannt als "The Old Fashioned Way". Die deutsche Aufnahme lebt vom Gegensatz zwischen wilder Beatmusik und romantischen Orchesterklängen. Und dann der Text (zitiert ohne Mühe): "Im Lärm der Diskothek, wo wir zuhaus uns fühlen, wo dich Gelärme rings so psychedelisch stört, da lauschen wir verzückt auf unbequemen Stühlen der neuesten Popmusik, die dort betäubend dröhnt. Dein indisches Gewand und ich im Maroc-Kragen. So sind wir hier bekannt von manchen Abend her, wie Pilger auf der Fahrt, wie alle Reden sagen, beim Tanzen Dunst und Rauch, die Luft zum Schneiden schwer... Komm, gib dich hin dem Gefühl, das aus der Mode kam, dein Herz an meinem Herz, beim hämmernden Klavier, mein Leib fühlt deinen Leib so weich und wundersam. Tanze Wange an Wange mit mir." Das war schon 1972 auf den Punkt und hat vieles vorweggenommen, wo wir uns heute musikalisch befinden: In einer orientierungslosen Zeit, in der man sich nach Werten sehnt.

Marc Hairapetian: Was sind Ihre nächsten Pläne?

Aznavour: Heil zurück nach Paris kommen. Und vielleicht noch einmal ein Album aufnehmen.

Marc Hairapetian: Filmen wollen Sie nicht mehr?

Aznavour: Nein, obwohl es immer mein Wunsch war, die Rolle des Gabriel Bagradian in "Die 40 Tages des Musa Dagh" zu spielen. Doch dafür bin ich jetzt viel zu alt. Seit Mitte der 1930er wurde das einstige Hollywood-Projekt aufgrund türkischer Interventionen immer wieder aufgeschoben. Zuletzt hatte der deutsche Produzent Ottokar Runze die Rechte daran erworben, Milos Forman sollte Ausführender Produzent sein, Ivan Passer Regie führen. Doch das Projekt liegt erneut auf Eis. Manche Filme sollen anscheinend nicht gedreht werden.

Marc Hairapetian: Sind Sie eigentlich religiös?

Aznavour: Nicht besonders, obwohl ich von der Konfession her armenisch-apostolisch bin und der ersten christlichen Nation überhaupt entstamme. Um mit Albert Camus zu sprechen: "Mich interessiert ein Jenseits nur, wenn ich mich an das Diesseits erinnern kann." Daran habe ich meine Zweifel, aber schön wäre es doch.


Das Interview führte Marc Hairapetian (SPIRIT – EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de) am 8. Juli 2013. Das Foto von Charles Aznavour und Marc Hairapetian machte Nune für SPIRIT – EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de am 8. Juli im Royal Tulip Grand Hotel Eriwan. Die restlichen Fotos von Charles Aznavour machte Marc Hairapetian am 7. und 8. Juli 2013 in Eriwan.