„Ich war für Herbert eine intuitive Institution“

Eliette von Karajan im Spirit-Gespräch
über ihren Mann, den größten Dirigenten
des 20. Jahrhunderts

Von Marc Hairapetian

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Marc Hairapetian:
Frau von Karajan, der Anlass für Ihr Buch „Mein Leben an seiner Seite“, ist der hundertste Geburtstag Ihres verstorbenen Mannes Herbert von Karajan. Wie ordnet man ein solch monumentales Leben - mit Hilfe eines Ghostwriters?

Eliette von Karajan:
Ganz am Anfang wollte ich mit Pierre-Jean RÉMY, der die bekannte Callas-Biografie geschrieben hat, zusammenarbeiten. Er ist ein großartiger Schriftsteller. Aber sein Verlag wollte mich allein als Autorin haben. Ich dachte nur: „Um Gottes Willen! Wer kann mir helfen?“ Schließlich habe ich an einen Ghostwriter gedacht. Es ging dann ganz schnell, denn es kamen zwei deutsche Autoren nach Anif. Aber als ich dann ihre Entwürfe las, habe ich mich darin nicht mehr gefunden. Und ich kann doch keine Biografie schreiben, ohne mich wieder zu erkennen. Also habe ich alles gestoppt und selbst alles mit viel Mühe aufgeschrieben. Aber es hat fast zwei Jahre gedauert.

Hairapetian:
Klingt nach einer anstrengenden Erinnerungsarbeit.

Eliette von Karajan:
Ja, es war sehr schwierig, weshalb mir auch Ewald Markl, ein sehr guter Freund meines Mannes und unserer Familie, geholfen hat. Wir haben gemeinsam festgestellt, dass ich eher ein Mensch bin, der in der Gegenwart und für die Zukunft lebt, aber eigentlich fast nie in der Retrospektive. Ich habe mich selten bewusst an Dinge erinnert. Es war vieles verschüttet und es musste vieles für mich wieder auftauchen, von den ersten Treffen bis zum Abschied von meinem Mann.

Hairapetian:
Haben Sie nie Tagebücher über die Erlebnisse damals geführt, mit Chronologien und Jahreszahlen?

Eliette von Karajan:
Nein. So wichtig habe ich mich selbst nicht genommen. Aber an die guten Sachen erinnere ich mich natürlich trotzdem.

Hairapetian:
Stimmt es, dass Sie hier in Ihrem Haus in Anif einen Lieblingsraum Ihres Gatten nach seinem Tod nicht mehr verändert haben?

Eliette von Karajan:
Ja.

Hairapetian:
War das ein Arbeitsraum?

Eliette von Karajan:
Er hat sein eigenes Zimmer gehabt und direkt daneben eine kleine Bibliothek, wo er sich immer mit Kopfhörern an den Ohren konzentriert zurück gezogen hat. Das ganze Zimmer ist immer noch mit Holz vertäfelt.

Hairapetian:
Ihr Mann ist 1989 verstorben. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie diesen Raum heute betreten?

Eliette von Karajan:
Ich habe das Gefühl, mein Mann hat mich nicht wirklich verlassen. Ich habe das Zimmer nicht verändert, sodass er jederzeit kommen und alles so finden kann, wie er es damals verlassen hat. Nichts hat sich dort geändert, sein Bett ist, wo es war, die Lampen sind noch da. Nur ein paar Fotos von den Kindern habe ich hineingestellt. Ich habe gesagt, wenn ich einmal etwas ändern will, mache ich alles ganz neu und modern. Aber solange ich lebe, habe ich das Gefühl: trotz seines Todes hat sich nichts geändert, Herbert atmet weiter mit mir.

Hairapetian:
Hören Sie manchmal spezielle Aufnahmen, durch die Sie sich Ihrem Mann nahe fühlen?

Eliette von Karajan:
Nein. Das tut mir noch sehr weh. Wenn ich male, zum Beispiel, dann höre ich beispielsweise die „Goldberg-Variationen“. Es ist für mich aber noch sehr schwer, Bruckner zu hören. Das greift mich immer noch sehr an. Oder wenn ich ein Bild von meinem Mann sehe.

Hairapetian:
In der öffentlichen Wahrnehmung wurde Ihr Mann häufig als Autokrat am Pult bezeichnet. War er privat auch so bestimmend oder hat er auch mal Widerspruch geduldet, von Ihnen und den Kindern?

Eliette von Karajan:
Er hat sich viel Zeit genommen für die Musik, für uns, die Familie und die Natur. Auch für das Essen. Das hat ihn auch immer getragen. Arbeit war eben Arbeit. Er musste auch manchmal zwei, drei Stunden allein sein für seine Konzentration auf die Musik. Beim Spazierengehen, auf dem Boot, im Flugzeug, denn alle diese Sachen waren seine Hobbies und brachten einen schnell von einem zum anderen Ort. Sie haben ihn fasziniert. Technik hat ihn fasziniert. Er hat diese Leidenschaften genutzt, um Zeit zu gewinnen, glaube ich.

Hairapetian:
Bei seinem dichtgedrängten Terminplan hat er allerdings oft Zeit verloren. Es gibt die Geschichte, wie er in seinem Privatjet zu einem Konzert in Stuttgart flog. Als die Maschine wegen schlechten Wetters nach Karlsruhe umgeleitet wurde, soll Ihr Mann einen seinen legendären Wutausbrüche bekommen haben. Fiel es ihm schwer, zu akzeptieren, wenn die Dinge einmal nicht nach Plan verliefen?

Eliette von Karajan:
Nein. Aber es stimmt: Er hatte ganz genaue Pläne. Er war immer pünktlich und hat die Leute nie warten lassen. Er war einfach gut organisiert. Aber er brauchte auch seinen Spaß. Dieses Jetset-Klischee, das ist nicht er. Wichtig war, dass wir uns zu viert oder zu sechst zu einem kleinen Essen trafen, mit interessanten Menschen.

Hairapetian:
Blieb für solche Momente der Entspannung überhaupt Zeit

Eliette von Karajan:
Manchmal ja. Wir haben Filme gesehen. Einmal hatte sich mein Mann mit seinem Aufnahmeleiter Stanley Kubricks „2001 _ Odyssee im Weltraum“ in Wien angesehen. Der Film war damals in aller Munde und hatte mit vielen Spezialeffekten und Technik zu tun. Das hat ihn interessiert. Aber da kam es fast zu einem Eklat. Denn Kubrick hatte „Also sprach Zarathustra“ verwendet. Sie warteten auf den Nachspann, in dem alle anderen Stücke von Johann Strauß bis Aram Khatchaturian samt mitwirkenden Orchestern aufgezählt waren, nur die Wiener Philharmoniker mit „Zarathustra“ fehlten. Mein Mann hatte genau nach drei Takten erkannt, dass das seine Aufnahme war. Doch die Filmleute hatten ja nicht einmal angefragt.

Hairapetian:
Später in „Uhrwerk Orange“ hat Kubrick Ihren Mann als Dirigenten sogar in einer Filmszene genannt, als der von Malcolm McDowell verkörperte Anti-Held Alex eine Mikrokassette mit Beethovens 9. Sinfonie abspielt. Der in „2001“ verwendete  Strauß-Walzer „An der schönen blauen Donau“ war auch von ihrem Gatten dirigiert worden, doch bei „Zarathustra“ wurde auf dem ersten Soundtrack-Album des Films  sogar noch Karl Böhm genannt.

Eliette von Karajan:
Nein, das war Herberts „Zarathustra“, sein erster „Zarathustra“ überhaupt. Er hatte es tatsächlich an dem seltsamen Orgelklang erkannt. Daran konnte er sich leidvoll erinnern, weil er damals in eine Militärkapelle in die Wiener Neustadt gefahren war und dort das Stück auf der Orgel eingespielt hatte. Das wurde dann nachträglich über Playback eingefügt. Ansonsten hat Herbert alles mit den Wiener Philharmonikern in den Sophiensälen eingespielt.

Hairapetian:
Hat Ihrem Mann der Film trotzdem gefallen?

Eliette von Karajan:
Ja, sehr. Der technischen Errungenschaften und Tricks wegen. Er hat sogar überlegt, wie man die dort gezeigten Verwandlungen und Projektionen in eine „Ring“-Inszenierung einbauen könnte. Leider haben sich mein Mann und Stanley Kubrick niemals persönlich kennen lernen können, obwohl sie sich gegenseitig hoch schätzten.

Hairapetian:
Mit dem Schauspieler Oskar Werner hingegen war Ihr Mann sehr befreundet. Er war einer der wenigen Künstler, denen Ihr Mann sogar das Du angeboten hatte.

Eliette von Karajan:
Die beiden mochten sich sehr. Nach einer Burgtheater-Inszenierung, die mein Mann gesehen hatte, schrieb er Oskar Werner einen Brief, in dem er ihm seine Bewunderung ausdrückte. Wir trafen uns dann in Wien, und es war einer der schönsten Momente. Oskar hat dann viele Gedichte rezitiert, Rilke, zum Beispiel. Mein Gott, er war so gut! Wir sind auch öfter in Paris ausgegangen. Er hat damals „Jules und Jim“ gedreht. Und später den Dirigentenfilm „Zwischenspiel“. Dafür hat er sich wohl etwas von Herberts Gestik abgeguckt. Oskar war aber auch irgendwie ein Solitaire. Er hatte dieses kleine Haus in Liechtenstein, das nach seinen eigenen Vorgaben gebaut wurde, wahrscheinlich um Kraft zu tanken. Herbert war manchmal ein wenig eifersüchtig auf Oskar, wenn ich mich mit ihm rein freundschaftlich getroffen habe. Doch er bot ihm ernsthaft den Gesangspart des Grafen Danilo in seiner Inszenierung von Lehárs „Die lustige Witwe“ an. Oskar lehnte ab: „Es kann nur einen Danilo geben: Johannes Heesters.“ Am Ende hat Oskar sehr viel gelitten, glaube ich, doch er besuchte noch kurz vor seinem Tod Herberts Aufnahmen im Musikverein zum „Rosenkavalier“.

Hairapetian:
Ihr Mann war zeitlebens um den perfekten Klang bemüht. Hat er manche Stücke wesentlich langsamer dirigiert, als seine Kollegen, um den Tönen mehr Zeit zur Entfaltung zu geben, zum Beispiel in Gounods „Faustwalzer“ oder in Beethovens Sinfonie „Eroica“?

Eliette von Karajan:
Nein. Beim „Faustwalzer“ und „Eroica“ bin ich mit Ihnen d'accord. Auf der anderen Seite: Wissen Sie, dass er bei einigen Sachen der Schnellste war und im Tempo nie unterboten worden ist? Seine letzte „Pastorale“ mit den Berlinern gilt als die schnellste der gesamten Schallplattengeschichte. Ansonsten war sein Tempo eher im mittleren Bereich, aber auch in den Schlusssätzen der fünften und siebenten Sinfonie Beethovens gehört er noch immer zu den Schnellsten seiner Zunft. Trotzdem wirkt es nie verhetzt, weil es so organisch ist und weil es atmet. Böse Zyniker haben immer gesagt, er dirigiere, als würde er mit dem Porsche durch die Landschaft fahren. Das ist keine Erklärung. Die Wahrheit ist, er hat die „Pastorale“ immer als sehr schwungvoll und bewegter als andere empfunden und umgesetzt. Seine sämtlichen "Pastoralen". Bei anderen Orchestern hört man oft wie die mit dem Tempo kämpfen. Und bei ihm, vor allem mit seinen Berlinern, klang das immer so selbstverständlich.

Hairapetian:
Frau von Karajan, wenn man heute erstmals mit klassischer Musik konfrontiert wird, scheint alles so konservativ und gediegen zu wirken. Wie würden Sie Ihren Mann einordnen - als Bewahrer oder als Innovator?

Eliette von Karajan:
Man hat immer gesagt, er sei klassisch. Aber man darf Ihn nicht nur auf sein Schallplattenrepertoire reduzieren. Schauen Sie sich eines seiner Konzertprogramme an und Sie werden sehen, wie ungewöhnlich seine Auswahl war.

Hairapetian:
Er hat sehr viel Sakralmusik umgesetzt. War er ein gläubiger Mensch?

Eliette von Karajan:
Ja, er war sehr gläubig, Er hat auch immer geglaubt, dass ein Leben nicht genügt für einen Menschen. Er war nie in der 11-Uhr-Messe, aber er glaubte an mehr. Ich ebenfalls. Ich erwarte sehr viel von „später“.

Hairapetian:
Sehen Sie eigentlich in der heutigen Generation von Musikern einen möglichen Nachfolger Ihres Mannes, jemand, der Ihnen besonders aufgefallen ist?

Eliette von Karajan:
Mehrere: Claudio Abbado, Seiji Ozawa, Sir Simon Rattle, Riccardo Muti,  Mariss Jansons und Christian Thielemann zum Beispiel.

Hairapetian:
Als Sie Ihren Gatten kennen gelernt haben, waren Sie noch eine junge Frau mit Anfang zwanzig. Sie waren unter anderem bei Dior Mannequin, heute sagt man Model.

Eliette von Karajan:
Ja, aber nicht lang.

Hairapetian:
Hatten Sie damals schon ein großes Interesse an der klassischen Musik oder hat das Ihr Mann tatsächlich erst in Ihnen entfacht?

Eliette von Karajan:
Schauen Sie, meine Mutter hat ein bisschen Klavier gespielt, meine Schwester auch und mein Bruder Geige. Ich war die Einzige, die nichts Musikalisches gelernt hat.  Ich bin manchmal mit meiner Mutter in die Oper oder in ein Konzert gegangen, aber das hat nichts zu tun mit meinem Leben und meinem Mann. Wenn man achtzehn Jahre alt ist, will man alles annehmen vom Leben. Für mich war es absolut normal, da ich neugierig war und die Liebe zur Musik besaß, ohne sie zu kennen. Ich bin ja kein Musikologe. Ich habe eher einen gefühlten Zugang zur Musik. Mein Mann hat mich deshalb immer wieder zu den Proben eingeladen, um von mir meinen Eindruck von seinen Arrangements zu bekommen. Ich glaube, ich war für Ihn auch eine intuitive Institution.

Hairapetian:
Ihr Mann war 25 Jahre älter als Sie...

Eliette von Karajan:
Ja, er hatte Lebenserfahrung, aber _ er war so jung. Er war älter als ich, viel älter, aber so agil. Ich spreche nicht von den letzten zwei Jahren seines Lebens, aber er hat alles mitgemacht. Ich konnte oft nicht einmal folgen, ihm und seinem Tempo.

Hairapetian:
Sie standen an der Seite eines Mannes im Rampenlicht. War es schwierig für Sie, Ihre eigene Karriere für Ihren Mann und Ihre Familie zurück zu stellen?

Eliette von Karajan:
An Licht war es genug zu der Zeit. An mich oder eine Art Eifersucht habe ich nie gedacht

Hairapetian:
Ihr Mann war ein Star, angehimmelt von zahlreichen weiblichen Bewunderern, die ihm zu den einzelnen Konzerten nachreisten. War es schwer ihn zu teilen?

Eliette von Karajan:
Nein. Ich habe mich gefreut, dass er letztendlich doch zu mir gekommen ist.



Das Interview führte Marc Hairapetian am 17. März 2008 in Anif bei Salzburg (Foto: Sabrina Safari).



Um ihr genaues Alter ranken sich Legenden:
Eliette von Karajan, geborene Mouret, kam in den frühen Dreißigerjahren als Nesthäkchen einer Gutsfamilie in
Mollans-sur-Ouvèze in der französischen Provence zur Welt. Mit achtzehn von Christian Dior entdeckt,
arbeitete sie als Mannequin, um kurz darauf in Saint-Tropez ihren zukünftigen Ehemann,
den Star-Dirigenten Herbert von Karajan, kennen zu lernen und 1958 schließlich zu heiraten.
1960 und 1964 wurden die gemeinsamen Töchter Isabel und Arabel geboren.
Seit dem Tod ihres Gatten 1989, widmet sie sich ihrer Ehrenpräsidentschaft der Salzburger Osterfestspiele,
der Malerei und dem Schreiben.So entstand auch ihre Autobiographie "Mein Leben an seiner Seite",
erschienen 2008 im Ullstein Verlag, Berlin, 237 Seiten, viele Abbildungen,
teilweise farbig, 22,90 €, ISBN 978-3-550-08722-6
parallel dazu ist eine Doppel-CD erschienen, auf denen Frau von Karajan ihre persönlichen Lieblingsaufnahmen
selbst zusammen gestellt hat, Deutsche Grammophon,
"Meine Lieblingsaufnahmen", 2 CD 477 7541, 19,95 €, ISBN 978-3-550-08737-0

Herbert von Karajan kam als Heribert Ritter von Karajan einer makedonischen Familie
armenischen Ursprungs  am 05. April 1908 in Salzburg zur Welt. Die Kritik feierte den ehemaligen Schüler
des Konservatoriums Mozarteum 1938 nach der Aufführung von Wagners "Tristan und Isolde"
an der Berliner Staatsoper als "Das Wunder Karajan".
Wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft wurde ihm 1946 ein einjähriges Berufsverbot erteilt.
1955  avancierte er zum Chefdrirgenten der Berliner Philharmoniker, trat aber im April 1989 zurück,
weil ihm die Senatsförderung nicht mehr ausreichte.
Der Maestro errang auch mit den Wiener Philharmonikern Triumphe und gründete 1967
der Salzburger Osterfestspiele, die er bis zu seinem Tod leitete.
Der blendend aussehende Ästhet legte größten Wert auf einen "entmaterialisierten Klang"
und war stark an den Techniken der Musikreproduktion interessiert.
So gilt der Privatpilot und Hobbyrennfahrer als Pionier der Langspielplatte und Compact Disc.
Zu Lebzeiten verkaufte er 115 Millionen Tonträger.
Drei Mal verheiratet starb der zweifache Vater am 16. Juli 1989 auf seinem Anifer Anwesen
in den Armen seiner Frau Eliette an Herzversagen.
Sein hinterlassenes Vermögen wird auf 500 Millionen Schweizer Franken geschätzt.


Eliette und Herbert von Karajan Institut


www.karajan.org