Edgar HilsenrathEdgar Hilsenrath

Dichtung und Wahrheit im außermoralischen Sinne

Edgar Hilsenrath und die Poesie des Grauens

von Mona El-Khansa und Oliver Hübel

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Edgar Hilsenrath ist ein Präzedenzfall in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Literatur. Während seine Werke 1978 in 18 verschiedene Sprachen übersetzt schon lange eine Millionauflage im Ausland erreicht hatten, war und ist seine Verlagssituation in Deutschland nicht unproblematisch. Dies liegt wohl größtenteils an der provokanten Art, mit der sich Hilsenrath dem Thema um Holocaust und Nationalsozialismus nähert. Entgegen dem Philosemitismus der deutschen Vergangenheitsbewältigung zeigt Hilsenrath z.B. im Ghettoroman „Nacht“ auf, inwieweit auch unter Juden der Mensch dem Menschen ein Wolf sein kann, wenn es um das nackte Überleben geht. „Eine solch grausame und realistische Geschichte über Juden darf in Deutschland gar nicht veröffentlicht werden“, hieß es dann dementsprechend aus den Reihen des Kindler-Verlags, der „Nacht“ 1964 mit einer minimalen Auflage von ca. 1200 Stück floppen ließ. 1977 erschien dann sein wohl populärstes Werk „Der Nazi und der Friseur“ bei dem Ein-Mann-Verlag Braun. In diesem grotesken Verwechslungsspiel von Täter und Opfer nimmt der Massenmörder Max Schulz die Identität des Juden Finkelstein an und flüchtet nach Palästina, um dort für die Errichtung des jüdischen Staates zu kämpfen. Während Hilsenrath in den autobiographischen Schriften „Die Abenteuer des Ruben Jablonski“ und „Bronskys Geständnis“ (1980; jetzt unter dem Titel „Fuck America!“) seine Erfahrungen mit der Welt nach dem Krieg niederschreibt, nähert er sich im „Märchen vom letzten Gedanken“ (1989) dem Thema Holocaust auf unkonventionelle Weise noch einmal an. Der vergessene Völkermord an den Armeniern wird hier in der Form eines orientalischen Märchens auf erschreckende, aber dennoch poetische Weise erzählt.

Im Dezember letzten Jahres erhielt Hilsenrath für sein Gesamtwerk den Lion-Feuchtwanger-Preis der Akademie der Künste, die jetzt auch seinen Vorlass betreut. Das Archiv gewährte uns vorab Einblick in die uneingearbeiteten, teilweise handschriftlichen Manuskripte, die viele Fragen beantworteten und neue aufwarfen. Grund genug Hilsenrath selbst um ein Gespräch zu bitten. Er empfing uns in seiner kleinen Wohnung in Steglitz. Unter dem Eindruck seines geordneten Chaos aus Büchern und Papieren und seiner immer noch lakonisch schelmischen Art, redeten wir mit ihm über Dichtung und Wahrheit eines Werkes, das viel zu lange in Vergessenheit geraten war.

„Ich bin eines Tages in ein Bistro rein gegangen und plötzlich hatte ich Lust zu schreiben.“

 SPIRIT: Zu aller erst würde uns interessieren: Warum gibt es nun einen Vorlass von Ihnen?

Hilsenrath: Der Vorlass ist eigentlich der Nachlass. Aber ich lebe ja noch. Ich wollte sowieso sehen, dass, falls ich mal sterbe, die Sachen gut untergebracht sind. Ich fand die Idee schon richtig.

SPIRIT: Wie ist der Kontakt zum Literaturarchiv der Akademie der Künste entstanden?

Hilsenrath: Durch meinen Verleger Helmut Braun.

SPIRIT: Haben Sie Ihren Vorlass selektiert?

Hilsenrath: Ich habe fast alles weggegeben.

SPIRIT: Wir haben bei unserer Recherche viel in Ihrer persönlichen Korrespondenz lesen können. Stört es Sie eigentlich Intimitäten Zeit Ihres Lebens in Umlauf zu wissen?

Hilsenrath: Herr Braun war hier und hat alles mitgenommen. Auch die Privatkorrespondenz. Mir egal. Können Sie lesen.

SPIRIT: Zu ihren Manuskripten: Es ist uns sehr schwer gefallen Ihre Schrift zu entziffern. Können Sie selbst sie immer lesen?

Hilsenrath: Haben Sie das handgeschriebene Manuskript gesehen?

(Seufzendes Kopfnicken unsererseits.)

Hilsenrath: Das kann man nicht entziffern. Das ist der erste Roman „Nacht“. Den hab ich in New York in der Cafeteria geschrieben. Da hatte ich keine Schreibmaschine. Ich habe mit der Hand, mit einem Kugelschreiber geschrieben und tausend Verbesserungen gemacht.

SPIRIT: Die gestrichnen Passagen haben Sie aber alle wie sie sind stehen gelassen.

Hilsenrath: Ich hab „Nacht“ mehrere Male umgeschrieben, durchgestrichen und neu geschrieben. Ich habe eigentlich nie korrigiert, sondern immer die Sachen noch mal neu geschrieben. Ich kann nicht korrigieren, das würde heißen, dass ich etwas nicht richtig gemacht habe. Wenn mir etwas nicht gefällt, lass ich es stehen und schreibe es noch mal neu. Wenn man daran rumfummelt, dann macht man es kaputt.

SPIRIT: In einer anderen autobiographischen Schrift aus Ihrem Vorlass heißt es, dass Sie „Nacht“ ca. 20 mal geschrieben hätten. Lag das an der Thematik oder an fehlender schriftstellerischer Routine.

Hilsenrath: Beides.

SPIRIT: In einem französischen Arbeitsheft aus ihrem Vorlass haben wir auch einige Notizen gefunden, die die Gründung des israelischen Staates zum Thema haben. Waren diese Aufzeichnungen schon Vorarbeiten zu „Nacht“?

Hilsenrath: Nein, das waren Vorarbeiten zu einem anderen Roman, den ich in Frankreich angefangen, aber nie zu Ende geschrieben habe.

SPIRIT: In Ihrem Vorlass befindet sich auch ein Brief, den Sie an Max Brod geschrieben haben. Wissen Sie noch, mit welchen Erwartungen Sie ihn kontaktiert haben?

Hilsenrath: Ich war damals ein junger Mann. Max Brod hat einen sehr freundlichen Brief zurück geschrieben. Ich habe Ihm nie geantwortet und bereue das noch heute. Ich hatte gerade angefangen die „Nacht“ zu schreiben und wollte es ihm schicken, aber der Anfang war nicht gut. Also hab ich es zerrissen.

SPIRIT: Uns ist aufgefallen, dass der Brief sehr emotional war und Sie sich in ihm sehr geöffnet haben, was Ihre Probleme beim Schreiben betrifft. Würden Sie sagen, Ihre Schreibblokade wurde durch Ihre Erfahrungen im Ghetto hervorgerufen oder war es eine rein schriftstellerische Krise.

Hilsenrath: Es war schon eine schriftstellerische Krise. Ich konnte nur deutsch schreiben und lebte im Ausland. Ich sprach perfekt englisch und hatte Angst meine Sprache zu verlieren.

SPIRIT: Hat Sie der Antwortbrief von Max Brod in dieser Krise beeinflusst?

Hilsenrath: Er hat mich ermutigt mit dem Schreiben anzufangen. Das hab ich auch gemacht, aber die ersten Kapitel hab ich in Frankreich angefangen. Ich bin eines Tages in ein Bistro rein gegangen, und plötzlich hatte ich Lust zu schreiben. Ich hab die Kellnerin gebeten mir Papier und ein Glas Wein zu geben. Dann hab ich das erste Kapitel geschrieben.

SPIRIT: Gab es jemals die Versuchung für Sie in einer anderen Sprache zu schreiben?

Hilsenrath: Mich haben viele gefragt, warum ich nicht englisch schreibe. Aber Deutsch ist meine Muttersprache. Ich habe nie eine andere gelernt. Ich kann kein ideales Englisch. Ich habe auch nicht Rumänisch gelernt und Französisch nur zu Verständigung. Ich hatte Angst meine Sprache zu verlieren und nicht mehr schreiben zu können. Die einzige Sprache die ich kannte war Deutsch. Aber ich war gezwungen immer englisch zu sprechen und habe angefangen englisch zu denken. Also hab ich deutsche Bücher gelesen.

SPIRIT: Was für Bücher waren das?

Hilsenrath: Es waren meist amerikanische Autoren, ins Deutsche übersetzt.

SPIRIT: Wie haben Sie die Sprachkrise nach 45 erlebt?

Hilsenrath: Ich war in Amerika und habe von dem ganzen Sprachstreit nichts mitbekommen. Mir war auch die neue Sprache der deutschen Schriftsteller zu abstrakt. Für mich war das Schreiben etwas ganz Natürliches. Ich habe genauso weiter geschrieben.

SPIRIT: Was hatte der deutsch-jüdische Schriftsteller Jakov Lind („Eine Seele aus Holz“/1962, „Landschaft in Beton“/1963) für eine Bedeutung für Sie?

Hilsenrath: Er war mein bester Freund und ein sehr interessanter Mann. Ich habe ihn in einer kleinen Stadt in Israel kennen gelernt. Wir sind nach Tel Aviv gegangen, wo ich einen Job als Tellerwäscher bekam. Später arbeitete ich in einem Krankenhaus. Jakov Lind kam als Arbeitsloser auch dorthin und ich fragte die Oberschwester, ob er nicht mit mir zusammen arbeiten könnte. Wir waren kräftig und jung und arbeiteten von da an als Lastenträger. Wir waren lange sehr eng befreundet. Lind ist später ein großer Schriftsteller in Amerika geworden. Als dann „Nacht“ heraus kommen sollte, habe ich ihn gebeten, für den Klappentext ein Kommentar zu schreiben. Das hätte mir geholfen. Er hat sich geweigert. „Nacht“ hat ihm nicht gefallen. Es war zu realistisch für seinen Geschmack. Das war Ende der 1960er. Seitdem gehen wir uns aus dem Weg.

SPIRIT: Das Debüt von Lind „Eine Seele aus Holz“ erinnert mich ein wenig an die Thematik aus „Der Nazi und der Friseur“. Beide spielen mit der Verwechslung von Opfer und Täter. Haben Sie sich gegenseitig in Ihrer Arbeit beeinflusst?

Hilsenrath: Nein das war schon viel später. Da hatte unsere Freundschaft schon keinen Bestand mehr.

 „Berlin…Endstation“

SPIRIT: Schreiben Sie immer noch auf Ihrer berühmten GROMA?

Hilsenrath: Ja, da steht sie. (Unsere bewundernden Blicke wandern Richtung Schreibmaschine, die im Chaos von Papier und Büchern auf Herr Hilsenraths kleinem Schreibtisch zu ertrinken droht.)

SPIRIT: Sie haben mal einen Text geschrieben, der in der Festschrift zu ihrem 70sten Geburtstag veröffentlicht wurde und den Titel „Dies ist eine computerfeindliche Lösung“ trug. Im Gegensatz dazu steht die Vorveröffentlichung ihres Romans „Berlin…Endstation“ im Internet.

Hilsenrath: Das hat die FH Fulda gemacht, die auch eine Homepage für mich organisiert hat.

SPIRIT: Stört eine Vorveröffentlichung nicht bei der Fertigstellung eines Textes?

Hilsenrath: Es weckt die Neugierde.

SPIRIT: Und warum wird der Roman dann erst 2008 veröffentlicht?

Hilsenrath: Weil der Dittrich Verlag erst die Gesamtausgabe herausbringen will. Der Roman ist fertig und liegt auf meinem Schreibtisch.

SPIRIT: Sie leben seit 1975 in Berlin. Wie nehmen Sie die Stadt heute wahr?

Hilsenrath: Berlin war gemütlicher als die Mauer noch da war. Es war eine Insel. Jetzt ist alles offen und ungemütlicher geworden. Mir gefällt das neue Center am Potsdamer Platz gar nicht.

SPIRIT: Haben Sie irgendwelche Lieblingsorte in Berlin?

Hilsenrath: Ich wohne schon seit 1976 hier in meiner Wohnung in Friedenau. Ich war früher sehr oft am Savigny Platz und in der Gegend um Bahnhof Zoo und Kurfürsten Damm.

„Es war ihnen zu grotesk.“

 SPIRIT: Warum benutzen Sie in autobiographischen Schriften wie im „Jablonski“ andere Namen.

Hilsenrath: Ich kann nicht über mich schreiben, das ist mir zu nah. „Jablonski“ war autobiographisch, „Nacht“ war ein Roman.

SPIRIT: In Ihren Werken taucht sehr häufig die Dialogform auf. Sie haben einmal die Aussage gemacht, dass Sie sich als verhinderten Dramatiker verstehen. Haben Sie tatsächlich mal ein Drama geschrieben?

Hilsenrath: Ich hab mal ein Theaterstück geschrieben, aber es wurde nie veröffentlicht. Es waren sehr gute Szenen drin.

SPIRIT: Aus welchem Grund wurde es nicht veröffentlicht?

Hilsenrath: Wollte keiner.

SPIRIT: Befindet sich dieses Stück auch im Vorlass oder liegt es noch bei Ihnen?

Hilsenrath: Es kann sein, dass es im Vorlass ist.

SPIRIT: Sie haben mal gesagt, dass Sie sich bei Ihren Dialogen vom Stil Erich Maria Remarques inspirieren lassen haben.

Hilsenrath: Kennen Sie den Roman „Arc de Triomphe“? Müssen Sie mal lesen. Ein wunderbares Buch. Der Dialog hat mich so fasziniert, dass ich ihn teilweise übernommen hab. Eine Art Inspirationsquelle. Ich habe alles von ihm gelesen, aber das ist das Bedeutendste.

SPIRIT: Wir haben eine frühe Erzählung von Ihnen mit dem Namen „Denise“ gefunden.

Hilsenrath: (lacht) Meine Allererste, da war ich 18 Jahre alt. Sie war noch sehr unreif. Sie erschien in einem Wiener Reisemagazin.

SPIRIT: Stimmt es, dass sie 1976 zwei Kinderhörspiele für den SFB geschrieben haben.

Hilsenrath: Ja, das stimmt. Ich hatte ein Angebot von der Hörspielleiterin vom Kinderfunk. Das eine hieß „Bienenstich und Negerküsse“. Es handelt von einem Elternpaar, das geschieden ist und über deren Kinder, die getrennt von einander aufwachsen. Über zwei Kuchen finden sie sich wieder. Eine witzige Geschichte, die ich geschrieben habe um Geld zu verdienen. Das zweite Hörspiel wollten sie nicht. Es war ihnen zu grotesk. Es ist die Geschichte über ein Kind, das beobachtet, wie seine Großeltern sich die Zähne nachts rausnehmen und in ein Wasserglas tun. Ein anderes Kind, das aus Afrika kommt, erzählt ihm, seine Großmutter hätte keine Zähne, da sie sie sich nicht leisten kann. Die Kinder beschließen, den Großeltern die Zähne aus dem Wasserglas zu klauen und diese nach Afrika zu schicken.

SPIRIT: Hätten Sie Interesse daran mal ein Kinderbuch zu schreiben?

Hilsenrath: Ich hab schon mal daran gedacht. Könnte ich mal machen, ja.

„Ich schreibe nicht über Politik, ich schreibe über Menschen.“

(Kurzzeitig wird unser Interview von einem Besucher unterbrochen, den Herr Hilsenrath in die Küche führt. Folgender Dialog ist zu hören: Hilsenrath: „Haben Sie mein Buch gelesen?“ Besucher: „Ich habe es nach dreißig Seiten erst mal beiseite gelegt, das war mir zu hart. Ich werde später weiter lesen.“)

SPIRIT: Das war wohl gerade eine typische Reaktion auf die Lektüre Ihrer Bücher.

Hilsenrath: Der liest gerade „Der Nazi und der Friseur“, ein hartes Buch.

SPIRIT: Gibt es eigentlich ein Buch von Ihnen, das nicht hart ist?

Hilsenrath: Eigentlich nicht.

SPIRIT: Glauben Sie Ihre Bücher sind für ein junges Publikum oder eher für Zeitzeugen?

Hilsenrath: Eher für ein junges Publikum. Dementsprechend kommen die Bücher jetzt als Taschenbuch raus.

SPIRIT: Warum glauben sie haben Zeitzeugen Probleme mit Ihrer realistischen Darstellungsweise?

Hilsenrath: Sie wollten sich selbst nicht so sehen wie in „Nacht“ dargestellt. Im Nachkriegsdeutschland wurden die Juden nur als Edelmenschen bezeichnet. Die Schattenseiten sollten nicht gezeigt werden. Das war das Schwierige in NACHT.

SPIRIT: Wie schätzen Sie das Verhältnis der Deutschen zu ihrer eigenen Vergangenheit ein?

Hilsenrath: Es gab sehr viel Verdrängung, aber jetzt wächst eine neue Generation heran.

SPIRIT: In einem weiteren Brief von Ihrer Mutter haben wir gelesen, dass Ihr Vater der Meinung gewesen sei, dass „Nacht“ ein Meisterwerk sei, wenn es nicht so gewalttätig wäre. Haben Sie mal überlegt es umzuschreiben?

Hilsenrath: Nein. Meine Eltern waren entsetzt über das Buch, weil es zu brutal war.

SPIRIT: Wie haben Ihre Eltern Ihre schriftstellerische Arbeit und Verarbeitung bewertet.

Hilsenrath: Sie schätzten mein Talent als Schriftsteller. Aber NACHT ist nicht unweigerlich unsere Geschichte. Ganz besonders brutal fanden Sie die Szene, in der Ranek seinem Bruder die Goldzähne herausschlägt, um sein Überleben zu sichern. Das konnten sie nicht ertragen.

SPIRIT: Sie reduzieren Ihren Umgang mit der Thematik des Dritten Reiches nicht auf eine klare Rollenverteilung von Nazis als Täter und Juden als Opfer, sondern zeigen, wozu ein Mensch fähig sein kann, wenn die Gesetze der Moral keine Gültigkeit mehr haben.

Hilsenrath: Ich schreibe nicht über Politik, ich schreibe über Menschen.

 „So etwas Realistisches darf in Deutschland gar nicht verbreitet werden.“

SPIRIT: Wir haben ein Zitat gefunden, in dem der Werbeleiter des Kindlerverlages Ernest Landau „Nacht“ mit den Worten kommentiert: „So etwas Realistisches darf in Deutschland gar nicht verbreitet werden.“

Hilsenrath: Die waren alle gegen mich. Die Frau vom Kindler, alle. Außer Kindler selbst, der war begeistert und hat es genommen.

SPIRIT: Kindler hat Ihr Buch schließlich aus Angst zurückgezogen. Dann haben Sie Helmut Braun kennen gelernt.

Hilsenrath: Ja, wir haben uns im Berliner Bücherkeller getroffen, wo ich zweimal gelesen habe. Er war ein junger, mutiger Verleger, der meine Bücher herausbringen wollte. Das hat er auch getan.

SPIRIT: 1977/78 ist Ihr Buch auf der Frankfurter Büchermesse gleichzeitig mit Günter Grass´ „Der Butt“ erschienen. Sie hatten damals ein sehr hohes Budget für die Promotion und eine ebenso große Reaktion.

Hilsenrath: „Nazi und Friseur“ war pressemäßig ein riesen Erfolg. Aber das Werbeetat war klein. Dann hat Braun die NACHT herausgebracht, und da gab es die große Promotion.

300 000 Mark Budget.

SPIRIT: Trotzdem hat es sich nicht so richtig verkauft. Woran lag das?

Hilsenrath: Die Buchhändler wollten das Buch nicht.

SPIRIT: Zwei Ihrer Werke sind vorerst unter einem anderen Titel erschienen: „Genosse Mandelbaum“ und „Bronskys Geständnis“.

Hilsenrath: „Genosse Mandelbaum“ ist eine reine Satire auf Amerika und Russland. Das hab ich mal aus Spaß geschrieben, so nebenbei. Es heißt übrigens „Moskauer Orgasmus“.

Der Langen-Müller-Verlag hatte aber Angst, er fand das obszön: „Moskauer Orgasmus“… ein dummer Verleger.

SPIRIT: War das mit „Bronskys Geständnis“ ähnlich?

Hilsenrath: Der eigentliche Titel ist „Bronskys Geständnis“. „Fuck America!“ war die Einleitung.

SPIRIT: Lässt das Buch sich mit diesem Titel besser verkaufen?

Hilsenrath: Der Verleger glaubt das. Ich weiß es nicht.

SPIRIT: Wie haben Sie reagiert, wenn Sie sich in einem Verlag nicht angemessen betreut gefühlt haben?

Hilsenrath: Ich wollte damals aus dem Vertrag mit Kindler raus, schuldete ihm aber noch zwei Bücher. Also hab ich zwei schlechte Bücher geschrieben. Die wurden abgelehnt und dann war ich frei.

SPIRIT: Ist es Ihnen schwer gefallen schlechte Bücher zu schreiben?

Hilsenrath: Ich hab alte Novellen aus den 50er Jahren eingeschickt und dann hab ich aus Spaß in einer Nacht 50 Gedichte geschrieben, schlechte Gedichte.

SPIRIT: Haben Sie außer diesen noch andere Gedichte geschrieben?

Hilsenrath: Ich bin kein Lyriker. Ich habe zwar einen poetischen Stil, schreibe aber Prosa.

SPIRIT: Wir haben in einem Brief von Ihrer Mutter an Sie gelesen, dass Sie vor hatten ein Gespräch mit Peter Ustinov zu führen. Gab es Überlegungen Sir Peter Ustinov für die Verfilmung eines Ihrer Bücher zu besetzen?

Hilsenrath: Ich wollte ihn für den Film „Der Nazi und der Friseur“ für die Rolle des Max Schulz. Ustinov war ein guter Charakterschauspieler. Der Kontakt ist aber nie zustande gekommen. Woody Allen wollte ich als Nazi besetzen. Ich habe ihn vorgeschlagen, weil es eine Groteske ist. Aber es wurde abgelehnt. Ich weiß nicht ob er es gemacht hätte.

SPIRIT: Gibt es auch Verhandlungen zu Verfilmungen anderer Bücher von Ihnen?

Hilsenrath: Ich habe Filmverträge zu „Der Nazi und der Friseur“, „Bronskys Geständnis“ und „Moskauer Orgasmus“.

SPIRIT: Gibt es schon einen Regisseur?

Hilsenrath: Für „Der Nazi und der Friseur“ interessiert sich ein serbischer Regisseur. Der hat eine eigene Produktion und würde das gerne machen.

SPIRIT: Werden Sie das Drehbuch schreiben?

Hilsenrath: Nein, er hat das Drehbuch schon geschrieben, aber ich habe daran mitgearbeitet.

SPIRIT: Wie wir einem anderen Brief ihrer Mutter entnehmen konnten, gab es auch Verhandlungen mit Century Fox.

Hilsenrath: Ich habe dieses Buch der Agentur Kohner angeboten. Ich glaube, die wollten nichts mit Nazis machen. Die haben das Buch gar nicht richtig gelesen.

SPIRIT: Was halten Sie von bisherigen filmischen Werken, die sich mit der Thematik des Dritten Reiches beschäftigen?

Hilsenrath: Die Amerikaner machen meistens Kitsch. „Schindlers Liste“ war ganz gut. Ich habe letztens den Film „Babi Jar“ von Arthur Brauner gesehen. Den fand ich auch spannend. Da geht es um das Massaker bei Kiew, wo Tausende von Juden erschossen und in die Schlucht „Babi Jar“ gestoßen wurden. Allerdings fand ich die Schlussszenen teilweise unrealistisch. Realistischer wäre es wohl gewesen, wenn die Nazis die Juden nicht im Graben, sondern vor dem Graben erschossen hätten.

SPIRIT: Wie schätzen Sie die Vergangenheitsbewältigung der Deutschen ein?

Hilsenrath: Das Verhältnis der Deutschen zu ihrer eignen Vergangenheit war bis in die 60er Jahre hinein sehr schwierig. Dann machte Joachim Fest, Redakteur der „Zeit“, einen großen Film über Hitler („Hitler- eine Karriere“/1975), eine Dokumentation.

SPIRIT: Sie sagen von sich selbst, Sie seien Atheist. Wie stehen Sie zur jüdischen Religion?

Hilsenrath: Ich bin antireligiös. Vom Standpunkt der frommen Juden bin ich gar kein Jude, weil ich nicht an Religion glaube. Ich kann nichts damit anfangen. Ich bin Jude durch meine Geschichte.

SPIRIT: Was bedeutet für Sie Israel?

Hilsenrath: Israel ist schon wichtig für die Juden, weil es der einzige Staat ist, wo man als Jude einfach hinfahren kann und Staatsbürger wird.

SPIRIT: Gab es für Sie von Seiten der Neonationalen jemals Bedrohungen.

Hilsenrath:1978 haben sie einmal meine Lesung gestört. Es gab einen Artikel im Spiegel darüber.

SPIRIT: Sie wählen oft die Groteske als literarisches Ausdrucksmittel. Das Schauerliche geht dort einher mit dem Komischen, Banalen und Sexuellen. Sie haben einmal gesagt, dass die Sexszenen rein philosophisch seien. Wie ist das zu verstehen?

Hilsenrath: Die Sexszenen haben mit Sex nichts mehr zu tun. Das ist eine andere Art der Darstellung der Wirklichkeit. In „Der Nazi und der Friseur“ wird Max Schulz von einer Hexe vergewaltigt. Das ist auch eine rein symbolische Handlung. Er wird erniedrigt.

SPIRIT: In „Bronskys Geständnis“ („Fuck America!“) verknüpfen Sie die Fähigkeit Bronskys zu schreiben mit seiner Potenz.

Hilsenrath: Ich glaube überhaupt, dass Erotik ein Ausdruck der Lebensfreude ist. Eine Sehnsucht nach Nähe und Wärme. Deswegen schreibt Bronsky.

„In Armenien bin ich durch das Buch ein Nationalheld“

 SPIRIT: Mit Franz Werfels „Die 40 Tage des Musa Dagh“ gehört ihr Roman

„Das Märchen vom letzten Gedanken“ zu den beiden bekanntesten Werken, die sich mit dem Völkermord an den Armeniern beschäftigen. Wie ist das Thema an Sie herangetreten?

Hilsenrath: Ich wollte noch einen Roman über Holocaust schreiben, aber nicht über die Juden. Ich habe nachgeforscht und herausgefunden, dass es noch einen anderen Holocaust vor dem zweiten Weltkrieg gegeben hat. Das war der an den Armeniern. Das hat mich interessiert, also habe ich jahrelang Quellenarbeit gemacht. In San Franzisko ist eine armenische Bibliothek, da hab ich gutes Material gefunden und auch hier in Berlin in der Staatsbibliothek. Ich habe viele Berichte von armenischen Überlebenden gelesen und tausende Fotokopien gemacht. Das war damals in Amerika nicht leicht, denn ich musste für jedes Blatt eine neue Münze einwerfen, das hat stundenlang gedauert. Das Material habe ich mit nach Berlin genommen und durchgearbeitet. Ich war auch in Van, der größten armenischen Stadt in der Türkei, doch dort war nichts zu finden. Ich fragte damals den Reiseleiter: Warum ist die Stadt zerstört, es ist alles weg? Alle alten Kirchen waren zerstört. Er sagte es wäre ein Erdbeben gewesen. Er hat nicht gesagt, dass die Türken es kaputt gemacht haben.

SPIRIT: Habe Sie während Ihrer Recherchearbeit auch persönlich mit Überlebenden gesprochen?

Hilsenrath: Alle meine Informationen habe ich aus den Bibliotheken. Ich kannte zwar mal ein paar Armenier, doch sie kennen ihre eigne Geschichte nicht.

SPIRIT: Wie waren die Reaktionen von Verleger und Umfeld auf die Wahl dieses Themas?

Hilsenrath: Die waren sehr gut. Ich hatte gute Rezensionen. In Armenien ist es ein Bestseller. Es ist ins armenische übersetzt worden. Vor drei Jahren war ich wieder in Armenien und bin gefeiert worden. Jeden Tag waren Presse oder Fernsehen bei mir. In Armenien bin ich durch das Buch ein Nationalheld.

SPIRIT: Was empfinden Sie für die armenische Kultur?

Hilsenrath: Ich fühle mich den Armeniern sehr verbunden. Sie haben ein ähnliches Schicksal. Doch ihr Thema ist nicht aktuell, es ist ein vergessener Völkermord. Angeblich hat Hitler gesagt: Wer spricht heute noch von dem Völkermord an den Armeniern.

SPIRIT: Dieses Zitat wurde auch im Film „Ararat“ mit dem armenischen Schauspieler Charles Aznavour verwand, der vor zwei Jahren auf der Berlinale lief.

Hilsenrath: Ich habe Charles Aznavour die französische Ausgabe vom „Märchen“ geschickt. Aber er hat nie geantwortet. Wahrscheinlich hat er es nie bekommen. Hat jetzt ein anderer.

SPIRIT: Hatten Sie von Anfang an vor, die Erzählform des Märchens zu gebrauchen?

Hilsenrath: Das hat sich so entwickelt. Ich kannte das Buch von Franz Werfel und wollte etwas ganz Neues machen. Da hab ich mir gedacht, am Besten ein Märchen. Das hat niemand gemacht vorher.

SPIRIT: In Ihren Notizen zum „Märchen“ taucht oft der Name Karl May und in den Randbemerkungen die Titel „Durch das wilde Kurdistan“ und „Von Bagdad nach Istanbul“ auf.

Hilsenrath: Ich habe das Buch „Durch das wilde Kurdistan“ gelesen. Karl May erklärt viele Begriffe, die ich verwenden konnte. Die Lektüre selbst mochte ich nicht besonders. Ich habe zwar in meiner Kindheit viele Wild Western Romane gelesen, aber alles Amerikanische. Die fand ich sehr spannend. Aber Karl May…

SPIRIT: Karl May wird oft ein latenter Rassismus vorgeworfen. Es gibt viele Stellen in seinem Werk, in denen er die Physiognomien stereotypisch bestimmten Volksgruppen zuordnet.

Hilsenrath: Er hat geschrieben, die Armenier hätten gierige Augen. Dabei haben sie melancholische, wunderschöne Augen.

SPIRIT: Wie die anderen Romanen auch, erhält das „Märchen“ seine Eindringlichkeit durch eine faszinierende Verbindung vom komisch Banalen und schauerlich Schrecklichen.

Hilsenrath: Ich bin der Einzige, der das auf diese Art machen kann, das kann kein anderer.

SPIRIT: Das wird wohl stimmen. Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führten Mona El-Khansa und Oliver Hübel am 18.1.05.

Vielen Dank an Frau Möller, Oberarchivarin der Akademie der Künste, die den Vorlass von Edgar Hilsenrath betreut.

Edgar Hilsenrath:

- 1926 geboren in Leipzig

- 1938 Flucht nach Rumänien

- 1941 Deportation in das Ghetto Moghilev-Podolsk

- 1951 Emigration in die USA

- 1975 Rückkehr nach Deutschland

- lebt in Berlin.

Bibliographie:

- "Nacht". Roman.

Kindler Verlag, München, 1964.

Literarischer Verlag Braun, Köln 1978.

Piper Verlag, München 1990.

- "Der Nazi und der Friseur". Roman.

Literarischer Verlag Braun, Köln 1977.

Piper Verlag, München 1990.

-"Genosse Mandelbaum". Roman.

Langen Müller Verlag, München/Wien 1979.

unter dem Titel:

"Moskauer Orgasmus".

Piper Verlag, München, 1992.

-"Bronskys Geständnis". Roman.

Langen Müller Verlag, München/Wien 1980.

Piper Verlag, München 1990.

- "Zibulsky oder Antenne im Bauch".Classen Verlag, Düsseldorf 1983.

Piper Verlag, München 1994.

- "Das Märchen vom letzten Gedanken". Roman.

Piper Verlag, München 1989.

- "Jossel Wassermanns Heimkehr". Roman.

Piper Verlag, München 1993, 1995.

- "Die Abenteuer des Ruben Jablonsky". Roman.

Piper Verlag, München 1997.

 

Die Gesamtausgabe erscheint gerade im Dittrich Verlag. Außerdem kommen Edgar Hilsenraths Werke jetzt als Taschenbuchausgabe im Deutschen Taschenbuch Verlag heraus.